
Gewalt in der Hundeerziehung – warum tun wir das?!
Eine psychologische Erklärung über ein brisantes Phänomen.
Ich will dir etwas verraten: Vor ein paar Jahren lagen tiefe Schatten über den Beziehungen zu meinen Hunden. Ganz besonders schwierig war es zwischen meiner sensiblen Hündin Zora und mir. Und das lag daran, dass ich manchmal sehr unfair und körperlich war – ich habe meine Hunde bestraft, in der Annahme, das sei erforderlich, notwendig und der „richtige“ Weg.
Heute sehe und lebe ich das komplett anders – aber wie kam eigentlich mein Sinneswandel zustande? Warum habe ich das getan? Und warum geht es so, so, so vielen anderen Hundehalter:innen und Trainer:innen ähnlich? Ich lerne immer wieder Kolleg:innen und Kund:innen kennen, die mir erzählen, dass sie Gewalt angewendet haben – aber ihr Verhalten erkannt, reflektiert und verändert haben. Es ist also leider kein seltenes Phänomen, das nur einige wenige Menschen betrifft. In diesem zweiteiligen Blogartikel erfährst du, warum Menschen so handeln und was du tun kannst, wenn du solche Verhaltensmuster an dir bemerkst. Ich verspreche dir, dass ein Alltag ohne Gewalt und Strafen dich und deinen Hund so viel glücklicher machen wird!
Vertrauen und Zuneigung deines Hundes sind kostbare Geschenke – gehe achtsam damit um.
Zunächst einmal möchte ich den Begriff „Gewalt“ definieren, damit du nachvollziehen kannst, ob wir beide dasselbe darunter verstehen. W. D. Fröhlich besagt hierzu folgendes:
„Gewalt (ist die) Anwendung von physischem Zwang und/oder psychischem Terror auf andere Personen, um ihnen Schaden zuzufügen, sie der eigenen Herrschaft zu unterwerfen, eigenständige Willensbildungen oder Handlungen auszuschalten, umzulenken oder aber sich dagegen zu wehren (Gegengewalt).“ (Wörterbuch Psychologie, S. 222)
Achtung: In diesem Artikel spreche ich NICHT über Gegengewalt im Sinne von Notwehr und auch nicht von schützender Gewalt! Als Beispiel: Würde ein Hund mit einer massiven Beschädigungsabsicht mein Kind attackieren und sich verbeißen, so würde ich alles tun, um den Hund zum Loslassen zu bewegen und mein Kind zu schützen (bspw. die Luft abdrücken) – ich würde aber nicht noch im Anschluss weiter auf den Hund einprügeln, um meine Angst und Wut abzureagieren. Oder aber stell dir vor, du gehst an einer Straße entlang, plötzlich gibt es ein lautes Geräusch, dein Hund macht vor Panik einen riesigen Satz auf die Straße und just in diesem Moment kommt auch noch ein Auto angefahren – vermutlich würdest du deinen Hund mit einem unfassbar starken Reißen an der Leine SOFORT wieder auf den Fußweg katapultieren. Dann wendest du in diesem Moment schützende Gewalt an. (Ich denke, wir sind uns einig, dass solche Situationen möglichst nicht passieren sollten und durch umsichtiges Führen im Straßenverkehr verhindert werden können – aber Fehler sind menschlich).
Unter Gewalt in Form von physischem Zwang verstehe ich körperliche Korrekturen wie „Nackenstöße“, Rucken an der Leine (auch „Leinenimpulse“ genannt), Schläge und Tritte und andere, für den Hund körperlich sehr unangenehme Reize (z.B. Stromhalsbänder, extremen Krach machen, Wasser ins Gesicht spritzen).
Auch Formen von psychischem Terror erlebe ich immer wieder: Hunde werden bei „mangelnder“ Kooperation tagelang nicht gefüttert, sie müssen zur Strafe über Stunden hinweg in Boxen sitzen, sie werden angeschrien, etablierte körperliche Korrekturen werden immer wieder angedeutet und damit Stress und Angst vor einer weiteren Strafe ausgelöst. Hunde nach einem „Fehlverhalten“ von sich selbst oder der Gruppe zu verjagen und damit sozial zu isolieren, ist ebenfalls psychische Gewalt. Das gleiche gilt für das gezielte Ignorieren eines Hundes über viele Stunden, Tage oder Wochen hinweg.
Falls du dich jetzt gerade fragst, ob einige dieser Punkte „normal“ sind, weil Hunde untereinander sich schließlich auch körperlich korrigieren, dann möchte ich dir gern folgendes antworten: Mir persönlich ist noch kein Mensch begegnet, der so fein und dezidiert körpersprachlich kommunizieren kann wie ein Hund – weil dazu schlichtweg die körperlichen Fähigkeiten fehlen. Außerdem stellen unter Hunden körperliche Korrekturen nur einen kleinen Teil ihrer unfassbar komplexen Interaktionen dar. Und last but not least: Hunde stellen niemals dermaßen abstrakte Anforderungen an ihre Artgenossen, wie wir Menschen es tun: Kein Hund verlangt von einem anderen, sich Blut abnehmen oder Zahnstein wegkratzen zu lassen, in einer dicht gedrängten Straßenbahn sich von jedem Fremden den Kopf tätscheln zu lassen, Fressbares in Gebüschen liegen zu lassen oder mit jedem fremden Hund auf der Hundewiese zu „spielen“.
Okay. Aber warum nun tun so viele Menschen all diese Dinge, auch wenn sie meistens tief in sich drinnen wissen, dass es ihren Hund und die Beziehung zu ihm schwer belastet?
Einer der Gründe ist häufig ein gewaltiger Strudel aus Emotionen und dem damit verbundenen Kontrollverlust: Gefühle wie Angst, Wut, Scham, Trauer und Schuld können Menschen in massiven Stress versetzen. Extrem starker, langanhaltender Stress führt aber dazu, dass unser Vorderhin, also unser „rationaler“ Teil vom Gehirn, nur noch reduziert arbeitet. Das limbische System im Mittelhirn hingegen wird dann besonders aktiviert. Das hat früher mal richtig viel Sinn gemacht: Wenn in der Steinzeit ein Säbelzahntiger vor dir gestanden wäre, dann hättest du nicht überlebt, wenn du erstmal ganz rational alle Möglichkeiten abgewogen hättest. Vorteilhafter wäre es daher gewesen, wenn du ohne nachzudenken und aus dem Affekt heraus dich für Kampf, Flucht oder Erstarren entschieden hättest.
In meiner Arbeit erlebe ich besonders häufig, dass Halter:innen Angst haben: Angst, dass der Hund etwas Gefährliches tun könnte, dass sie selbst einen Fehler machen, und manchmal sogar Angst vor dem eigenen oder vor fremden Hunden. Auch Wut tritt besonders facettenreich auf. Insbesondere Scham kann starke Wut auslösen. Das liegt daran, dass Scham unser Selbstwertgefühl angreift. „Was denken die anderen von mir, halten sie mich für inkompetent und warum führt mein Hund mich hier so vor?!“
Die Sache ist nur: Dein Hund tut niemals etwas gegen dich. Er tut immer etwas für sich. Manche Menschen sind eigentlich tierisch wütend auf sich selbst, können diese starke Emotion aber nur schwer bewältigen und reagieren dann sehr emotional auf ihren Hund. Im Anschluss schämen sie sich für ihren Aussetzer, was wieder starken Stress und Druck verursacht, die Wut entlädt sich und der Teufelskreis ist in vollem Gange.
Und manchmal dient die Wut auch dazu, eine dahinter liegende Emotion zu kaschieren: Die Trauer. Vielleicht kennst du es selbst, bevor du dir deinen Hund in dein Leben geholt hast, hattest du vermutlich viele Bilder, Wünsche und Vorstellungen darüber, wie euer künftiges Leben aussehen sollte. Häufig bleiben es aber Illusionen, denn unsere Hunde bringen ihre Persönlichkeit, Veranlagungen, Erlebnisse und Bedürfnisse mit. Das kann – und darf! – Trauer bei dir auslösen. Trauer fühlt sich aber wahnsinnig unangenehm an. Nicht selten ist es auch so, dass Trauer nur wenig Platz in unserer Gesellschaft hat. Wut lässt sich für manche Menschen besser kanalisieren, aber die Folgen sind fatal: Diejenigen, die die Wut zu spüren bekommen, leiden darunter und das eigentliche Problem wird nicht aufgearbeitet.
Außerdem sorgt extremer und/oder dauerhafter Stress dafür, dass wir weniger empathischer sein können. Auch das hat einen evolutionspsychologischen Sinn: Wenn das eigene Leben in Gefahr war, dann war es teilweise ratsam, die eigene Haut zu retten und sich nicht zu viele Gedanken um andere zu machen.
Heute hindert uns das aber daran, auch in chronisch belastenden Situationen, andere Lebewesen im Blick zu behalten. (Schmidt, 2019).
Stressauslöser in Bezug auf den Hund können zum Beispiel Unsicherheit, Überforderung oder Schmerzen sein. Ein 40kg schwerer Hund, der in die Leine donnert und einen Passanten lautstark verbellt, der kann seinen Menschen psychisch und körperlich an seine Grenzen bringen. Wenn zudem auch bei dem Menschen noch Hintergrundstress (Konflikte bei der Arbeit oder in der Familie, finanzielle Sorgen, usw.) dazukommt, läuft das Fass schnell über.
Im Zusammenhang mit der Verunsicherung kann es zu einem besonders gefährlichen Phänomen kommen:
Fehlendes Wissen über Hundeerziehung + Kein Vertrauen in das eigene Bauchgefühl = Gefahr, sich Dinge aufdrücken zu lassen, von denen man eigentlich ahnt, dass sie mehr schaden als helfen.
Hast du das auch schon mal erlebt? Vielleicht in einem anderen Kontext? Wenn du in einem Fachgebiet (noch) nicht so viel oder kein Wissen hast, dann suchst du selbstverständlich eine Person auf, die das professionell macht. Seien es Ärzt:innen, Automechaniker:innen, Anwält:innen, usw. Absolut sinnvoll, schließlich können und müssen wir nicht in allen Themen dieser Welt Expertise haben. Und trotzdem, wenn sich etwas nicht gut anfühlt und die Erklärungen der Fachperson irgendwie nicht so richtig schlüssig sind, dann endet das meistens nicht sehr gut… Das passiert übrigens vielen Menschen! So halten wir zum Beispiel Ärzt:innen mit weißen Kitteln häufig für kompetenter, als wenn diese Personen ganz alltägliche Kleidung in der Praxis tragen – das betrifft sicher auch viele andere Berufsstände, denn „die Person ist Expert:in, die wird schon wissen, was die da tut.“
Eingangs habe ich die Frage aufgeworfen, warum Menschen Dinge tun, von denen sie eigentlich wissen oder zumindest fühlen, dass sie nicht hilfreich sind. Die Antwort lautet: Kognitive Dissonanz.
Was ist das? Das ist ein kulturübergreifendes Phänomen, bei dem ein Mensch in einem emotional sehr unangenehmen Zustand ist. Der Grund für diese inneren Spannungen sind zwei Kognitionen (= z.B. Gedanken, Meinungen, Wünsche), die im Widerspruch zueinander stehen. Dann gibt es im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder, der Mensch hält diese Spannungen aus, setzt sich mit dem Problem auseinander und versucht zu verstehen, warum er so zwiegespalten ist und wie er es lösen kann. Oder aber der Mensch geht in die Vermeidung: Er guckt quasi weg und tut so, als wäre er einfach nicht im Zwiespalt oder er negiert die Fakten.
Ein Beispiel: Rauchen. Raucher:innen wissen durchaus, dass das Krebs verursachen kann, aber schieben die Gedanken daran entweder weg oder sagen vielleicht, dass ihnen das schon nicht passieren wird. Oder viel banaler: Du bleibst abends sehr lange wach, obwohl du weißt, dass du morgen früh aufstehen musst und dann sehr müde sein wirst – aber du sagst dir, dass du nur noch diese eine Folge gucken wirst und sooo spät ist es ja noch nicht und überhaupt, so müde wirst du nicht sein, dein Kaffee wird das schon richten 😉
Wichtig zu wissen für dich: Kognitive Dissonanz ist an sich erstmal ein völlig normales Phänomen. Denn unser Gehirn möchte es möglichst einfach haben, unsere Welt und unsere Leben werden hingegen immer abstrakter und komplexer. Tagtäglich erleben also alle Menschen im Großen und im Kleinen dieses Phänomen. Wie du das auflösen kannst, erfährst du übrigens im zweiten Teil dieses Blogartikels!
Ebenfalls ein Grund können – nicht müssen! – eigene Erfahrungen in der Kindheit sein. Wenn du eine Erziehung erlebt hast, die gewaltsam war, dann kann es passieren, dass du später als erwachsene Person diese Erfahrungen wiederholst, indem du selbst mit Lebewesen, die dir anvertraut sind, so agierst – womöglich auch schlichtweg unbewusst. Oder aber du hast als Kind gelernt und beobachtet, wie Hunde in deinem familiären Umfeld mit einer „harten Hand“ erzogen wurden und hast manchmal kein Bild, wie es anders aussehen könnte.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal betonen, dass eigene Gewalterfahrungen NICHT zwangsläufig dazu führen, dass Menschen selbst gewaltsam werden! Unbestritten ist aber, dass solche Erlebnisse Spuren hinterlassen.
Du siehst, dieses Thema ist unfassbar komplex und ich könnte dir noch so viel mehr dazu erzählen. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen Artikel zu lesen. Im zweiten Teil erfährst du dann, welche Wege es gibt, um aus der Gewaltspirale herauszufinden und wie du deine Emotionen im Umgang mit deinem Hund leichter regulieren kannst.
Ich wünsche dir und deinem Hund von ganzem Herzen eine wundervolle Zeit miteinander!
(Quelle: Nicola Schmidt, 2019, Erziehen ohne Schimpfen, 1. Aufl., München, Gräfe und Unzer Verlag GmbH)