Verhaltensstörungen beim Hund

Als Zora bei mir einzog, stand ich vor einem riesigen Rätsel. Nachdem ich mit Keno gut an seinen Baustellen wie Ressourcenaggression, aggressives Verhalten gegenüber Menschen und Hunden, Panik beim Autofahren, usw. gearbeitet hatte, war ich bei Zora tatsächlich absolut überfragt. Der Grund: Zora zeigte nicht einfach nur normales hündisches Verhalten, das aber gesellschaftlich ein Problem ist, sondern sie hatte enorme Verhaltensstörungen.

Zora hat ein Deprivationssyndrom und zeigte in den ersten Jahren bei mir Verhaltensstereotypien, auch „abnormal repetitives Verhalten“ (ARV) genannt. Sie bellte völlig anhaltslos bis zur Heiserkeit und sie kreiselte über Minuten hinweg. Dabei hatte sie so massiven Stress, dass ihr Speichel schäumte und sie nicht mehr ansprechbar war. Mittlerweile führt sie ein gutes Leben bei uns, ich genieße die gemeinsame Zeit mit ihr und ihre Verhaltensstereotypien hat sie bereits seit zwei Jahren nicht mehr gezeigt. 

Ich wünschte, ich hätte damals bereits dieses Wissen gehabt! 

Deshalb habe ich in Zusammenarbeit mit der sehr erfahrenen Martina Friedrichs, eine auf Verhaltenstherapie spezialisierte Tierärztin und Hundetrainerin, ein paar Informationen für dich zusammengetragen. In diesem Artikel erfährst du, was genau unter diese Form der Verhaltensstörung fällt und warum ein Hund das macht. Außerdem lernst du, wie man einen betroffenen Hund behandeln und trainieren kann und was es im Alltag zu beachten gilt. 

Los geht’s!

Welche Verhaltensstörungen können Hunde entwickeln?

Unter den sogenannten ARV versteht man also alle abnormal sich wiederholende Verhaltensmuster. Häufig wird in diesem Kontext auch von Verhaltensstereotypien und Zwangsverhalten gesprochen. Wichtig zu wissen ist hierbei: Der betroffene Hund entscheidet sich NICHT willentlich für diese Verhaltensweisen, sondern unterliegt einem Zwang, dem er sich nicht widersetzen kann. Folgende Verhaltensauffälligkeiten werden hierbei gezeigt:

  • Oral: Exzessives Lecken/Saugen z.B. an Oberflächen, Pica, Polyphagie
  • Lokomotorisch: Kreiseln, Jagen der Rute, Jagen von Schatten/Lichtreflexen, fly-snapping , auf und ab rennen, exzessives Graben
  • Selbstgerichtet: akrale Leckdermatitis, exzessives Kratzen, Flanken saugen
  • Vokalisierend: monotones Bellen, anhaltendes Heulen
  • Halluzinatorisch: Kopfschütteln, in die Luft schnappen, Jagen eingebildeter Objekte, Fixieren von Schatten

Es ist wichtig zu verstehen, dass es sich nicht um unerwünschte oder störende Verhaltensweisen handelt, die man mit ein bisschen Training verändern kann. Es sind tiefgreifende Störungen, die besonders für den Hund mit einem starken Leidensdruck verbunden sind. Aber wie kann es überhaupt dazu kommen? 

Hunde, die abnormal repetitive Verhalten zeigen, entscheiden sich NICHT willentlich für diese Handlungen.

Auslöser und Ursachen für abnormal repetitive Verhaltensstörungen:

  • massiver, langanhaltender Stress und eine insgesamt niedrige Stresstoleranz
  • Deprivationssyndrom, erlernte Hilflosigkeit, Angst/Furcht allgemein
  • Konfliktsituationen mit hohem Frustrationspotential
  • Traumatische Erlebnisse
  • Manchmal auch Langeweile bei extrem reizarmer Haltung z.B. im Zwinger 
  • andere Erkrankungen: Allergien, Juckreiz unterschiedlichster Ursache, Hautentzündungen, Analbeutelerkrankungen, Schmerzen allgemein, orthopädische Erkrankungen /Lahmheiten unterschiedlichster Ursachen
  • Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes wie Reflux, Übersäuerung, Futtermittelunverträglichkeiten
  • Ohrenentzündungen, Taubheit
  • Schilddrüsenerkrankungen (Unterfunktion)
  • neurologische Erkrankungen z.B. Epilepsie, neuropathischer Schmerz, Hirntumore, Hydrocephalus
  • Störungen im Hirnstoffwechsel
  • Leber-Shunt

Was kann man tun, um einem verhaltensauffälligen Hund zu helfen?

Bedeuten diese Auslöser nun, dass Hopfen und Malz verloren sind und der betroffene Hund als auch das Umfeld einfach mit diesen Verhaltensstörungen leben muss? Mitnichten! Es gibt so viele Dinge, die man tun kann. 

Zuerst: Wenn du einen solchen Hund hast oder dieser bei dir im Training ist, dann sorge bitte dafür, dass der Hund komplett tiermedizinisch untersucht wird. Häufig ist es auch so, dass mehrere Auslöser zusammenkommen. Sämtliche gesundheitliche Probleme des Hundes sollten erfasst und vor allem medizinisch behandelt werden. So sind z.B. Schmerzen ein sehr großer Stressor und sollten Ernst genommen werden. 

In solchen Fällen ist es erforderlich, Tierärzt:innen mit der Zusatzausbildung in Verhaltenstherapie aufzusuchen. Nur diese haben die entsprechende fachliche Ausbildung und Erfahrung, um Verhaltensstörungen zu diagnostizieren und angepasst zu behandeln und eventuell zu Grunde liegende körperliche Störungen/gesundheitliche Probleme zu erkennen. Sollten Störungen im Hirnstoffwechsel vorliegen, so können Psychopharmaka aus dem Humanbereich helfen, dass der Leidensdruck des Hundes verringert werden kann, indem er seltener seinen Bewegungsstereotypien oder Zwängen erliegt. 

ARVs müssen sehr häufig unterstützend zu einem Verhaltenstraining und geeigneten Managementmaßnahmen im Alltag  mit Psychopharmaka behandelt werden. 

Zur Anwendung kommen hierbei in der Regel sogenannte Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRIs) aus der Humanmedizin oder Clomipramin (ein sog. Trizyklisches Antidepressivum). Eventuell ist eine Kombination aus diesen nötig.

Besteht der Verdacht, dass die Zwangsstörung möglicherweise durch eine zu Grunde liegende Epilepsie ausgelöst wird, kommen auch Antiepileptika zum Einsatz.

In den meisten Fällen müssen die Psychopharmaka lebenslang verabreicht werden, um eine adäquate Lebensqualität der Hunde zu gewährleisten.

Oberstes Gebot bei einem Einsatz solcher Medikamente: Es darf niemals darum gehen, einen Hund einfach nur ruhig zu stellen, sondern es dient als Hilfestellung, damit es dem Hund besser geht und er dadurch wieder lernfähig wird. Schließlich ist es wichtig, dass der Hund neue Bewältigungsstrategien lernt.

Deshalb: Hole dir zusätzlich Unterstützung durch eine:n Hundetrainer:in und achte darauf, dass die Person über positive Verstärkung und bedürfnisorientiert arbeitet. Druck, Korrekturen, Maßregelungen und Strafen werden die Probleme deines Hundes nur verstärken. Manche der verhaltenstherapeutisch ausgebildeten Tierärzt:innen arbeiten auch im Hundetraining.  

Hunde mit Verhaltensstörungen haben häufig viel Stress und stehen unter einem hohen Leidensdruck.

Aspekte, die im Alltag berücksichtigt werden sollten: 

  • Beobachte intensiv und schreibe anschließend auf, welche Situationen und Reize von deinem Hund als Stressoren empfunden werden. Das können Dinge sein, die für dich normal und harmlos sind – dein Hund mag das womöglich anders wahrnehmen. Als nächstes ist Management gefragt: Reduziere gezielt diese Stressoren im Alltag, um chronischen Stress zu vermeiden. Es kann helfen, Gassistrecken statt -runden zu gehen. Wir Menschen empfinden es häufig als schön und erholsam, wenn wir viele verschiedene Dinge auf einem Spaziergang erleben. Für deinen Hund, der wahrscheinlich Schwierigkeiten mit der Reizverarbeitung hat, kann das aber schnell zu viel werden. Eine Strecke zu gehen und diese anschließend wieder zurückzugehen, hat den Vorteil, dass dein Hund auf dem Rückweg nicht mehr mit ständig neuen Reizen konfrontiert wird. Eine andere Möglichkeit sind sogenannte „Spaziergangsinseln“: Suche dir eine ruhige Wiese, auf der ihr verweilen könnt. Dein Hund hat so die Möglichkeit, Außenreize zu verarbeiten, ohne permanent mit neuen Gerüchen, Geräuschen und anderen Eindrücken entlang der Gassistrecke konfrontiert zu werden.  Und habe dabei im Kopf: Grundsätzlich, aber für solche Hunde ganz besonders, gilt: Qualität statt Quantität. Es hilft deinem Hund nicht, Kilometer zu reißen, sondern Aktivitäten nachzugehen, die ihm Freude bereiten und die Ruhe, um ausreichend die vielfältigen Umweltreize verarbeiten zu können. 
  • Stelle eine kleine Liste auf mit Dingen, die dein Hund sehr gern macht: Etwas suchen, buddeln, mit dir rennen, Pappkartons schreddern, Nasenarbeit? Es geht darum, was deinem Hund gefällt. Aber Achtung: Auch hier kann es manchmal zu viel des Guten sein. Also probiere aus, in welchem Umfang es deinem Hund hilft. 
  • Ebenfalls helfen können sogenannte „Decompression Walks“: Suche dir reizarme Umgebungen, nimm eine lange Schleppleine mit und lasse deinem Hund so viel möglich Zeit und Raum, die Umgebung zu explorieren und zu schnüffeln. Merke: Es kann sein, dass dein Hund dies zu Beginn nicht annehmen kann und völlig überfordert ist, wenn er keine „Vorgaben“ hat, was er als nächstes tun soll. Dieser Stress wiederum kann dann ungewollt die ARV wieder fördern. Baue dann kurze Phasen, in denen dein Hund richtig Freizeit hat, schrittweise auf. 
  • Selbst vereinzelte Stressauslöser können für deinen Hund eine massive Belastung sein. Deswegen ist der nächste Schritt relevant: Welche Maßnahmen helfen deinem Hund, Stress möglichst gut abzubauen? Häufig ist es so, dass Routinen und Rituale im Alltag Halt geben können. Baue in diesem Kontext auch die konditionierte Entspannung auf! Sie kann unter anderem dabei helfen, wenn dein Hund Schwierigkeiten hat, zur Ruhe zu kommen.
  • Regelmäßige Ruhetage sind unerlässlich, damit dein Hund regenerieren kann und wieder bereit ist, Neues zu lernen. An diesen Tagen passiert wirklich nichts, außer Lösen, Fressen, vielleicht noch Knabbern und ansonsten: SCHLAFEN. Bei länger anhaltendem Stress passieren viele Prozesse im Körper, die sich nachteilig auswirken können, wenn man nicht gegensteuert. So wird z.B. viel Cortisol ausgeschüttet. Anders als Adrenalin, das über Bewegung abgebaut wird und den Organismus aktiviert, wird Cortisol über Schlaf und Regeneration abgebaut. Erfolgt das nicht, kann der Cortisolspiegel nicht ausreichend gesenkt werden. Das hat negative Auswirkungen auf das Gesamtbefinden: Dein Hund wird dünnhäutiger, lernt schlechter und kann das zuvor Gelernte schlechter abspeichern, kommt immer weniger zur Ruhe – und wird im Extremfall auch krank, da das Immunsystem beeinträchtig ist. Du darfst also das Motto „Viel hilft viel“ getrost in die Tonne kloppen.  
  • Oft ist so, dass Hunde, die von diesem Thema betroffen sind, auch noch weitere Themen haben (z.B. Trennungsstress, Ressourcenaggression, usw.). Überlege dir, welche der Themen aktuell in eurem gemeinsamen Alltag den größten Stress verursachen und wende dich erstmal nur diesen Themen zu. Versuche nach Möglichkeit, die anderen Themen mit Management und kreativen Lösungen zu umschiffen. Es ist leichter, wenn ihr Beide Schritt für Schritt an einem Thema arbeitet, anstatt mehrere kleine Baustellen zu eröffnen. 

Hast du noch Fragen oder suchst du Unterstützung? Dann schreibe uns eine Email: Kontakt 

Mehr zu Martina Friedrichs und ihre Kontaktdaten findest du hier: www.hundmenschteam-hannover.de

Abnormal repetitives Verhalten, ARV, Hundepsychologie, Stressmanagement, Tierärztin, Verhaltensstörungen

© 2020 Wegbegleiter | Design by ninaJansen Gestaltung